Dass wir so wenig über die Schrecken der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland und die vielen an der Zivilbevölkerung verübten Massaker wissen, hängt auch damit zusammen, dass die ProtagonistInnen des antifaschistischen Widerstands, ganz anders als etwa in Italien und Frankreich, bis weit in die 1970er Jahre zum Schweigen über ihr Tun gezwungen waren. Dass noch immer an der Legende gestrickt werden kann, die deutsche Wehrmacht hätte in Griechenland einen „sauberen“ Krieg geführt, scheint nur möglich, weil ZeitzeugInnen erst spät vom Erlebten berichten konnten.
Mikis Theodorakis schrieb in seinem Vorwort für die deutsche Übersetzung des Buches von Katina Tenda Latifis zurecht darüber, wie wichtig es ist, „dass die Geschichte von denen aufgeschrieben wird, die sie durchlebt und mitgestaltet haben und dafür oft einen hohen persönlichen Preis zahlen mussten“.Katina Tenda Latifis hat viel erlebt: Als Kind den Überfall der Italiener und Deutschen, als Schülerin den Widerstand gegen die ausländischen Invasoren, als junges Mädchen den Griechischen Bürgerkrieg und danach jahrzehntelanges Exil.
Als Ende Oktober 1940 Mussolinis Truppen in Griechenland einfielen, strickten Katina Tenda und ihre Mitschülerinnen in ihrem Heimatdorf Almyrós Pullover und Socken für die Soldaten an der Front. „Wir strickten viele Socken, denn es hieß, unsere Armee kämpfe barfuß.“
Nur wenige Monate später, nach dem Scheitern der italienischen Frühjahrsoffensive, kamen die mit Italien durch die „Achse Berlin-Rom“ und den „Stahlpakt“ verbündeten Deutschen: Es galt, den Balkan und den östlichen Mittelmeerraum für den geplanten Angriff auf die Sowjetunion zu sichern. Nachdem Griechenland schnell überrollt war, überließ das Naziregime den Italienern einen Großteil des Landes als Besatzungszone. Mit „Durchkämmungsaktionen“ auf der Suche nach Partisanen Geiselerschießungen verbreiteten die Besatzer Angst und Schrecken in der Region, plünderten und brandschatzten. Bei einer dieser Aktionen wurde Katinas Onkel hingerichtet. Später erzählte man ihr, er hätte vor der Erschießung sein eigenes Grab schaufeln müssen. Da hatte sich das Mädchen bereits angewöhnt, das Haus nur noch als alte Frau verkleidet zu verlassen.
Die Sehnsucht nach Freiheit
Als Katina 14 Jahre alt war – die Italiener hatten im September 1943 kapituliert und die Deutschen auch in der vorher italienischen Besatzungszone die Macht übernommen – schloss sie sich der EPON (Eniaia Panelladiki Organosi Neon) an, der Jugendorganisation der Nationalen Befreiungsfront (EAM). Rekrutiert wurde sie von einem Nachbarmädchen, kaum älter als Katina, deren ältere Geschwister sich aber bereits früh dem Widerstand angeschlossen hatten. Von nun an halfen die Mädchen mit, die Felder der untergetauchten Partisanen zu bestellen, obdachlos gewordenen Menschen ein Dach über dem Kopf zu beschaffen und Bildungsveranstaltungen und Kampagnen gegen den Analphabetismus zu organisieren. „Wir eröffneten Büros der Jungen Adler und der EPON, die bald voller Kinder und Jugendlicher waren. Wir wanderten durch die Dörfer, läuteten die Glocken und machten den Leuten klar, wie notwendig es war, gemeinsam zu kämpfen, um uns zu befreien.“ Für die Aufnahme in der Offiziersschule der ELAS (Ellinikos Laikos Apelevtherotikos Stratos) war sie noch zu jung, übernahm aber immer wichtigere Aufgaben in der regionalen EPON: „Wir waren wie beseelt von Sehnsucht nach Freiheit.“
Diese Freiheit verspürte Katina nach dem Abzug der Deutschen im Oktober 1944 nur kurz. Dann erlebte sie wie versteinert, was es bedeutete, dass sich die verschiedenen Widerstandsorganisationen und die Exilregierung in Kairo im Libanon-Vertrag darauf verständigt hatten, eine Regierung der nationalen Einheit unter britischer Kontrolle zu bilden. Sie erfuhr von den Dezemberkämpfen in Athen, als griechische Polizeikräfte bei einer EAM-Demonstration ein Blutbad unter den DemonstrantInnen auf dem Syntagma-Platz anrichteten. Und sie erfuhr, dass den Kampf gegen die ELAS-Truppen britische Panzer – unterstützt von Bombardierungen der Royal Air Force – gewonnen hatten.
Gejagt von früheren Kollaborateuren
„Als wir die Besatzer bekämpften, waren wir überzeugt, dass wir eines Tages frei sein würden. Aber jetzt? Jetzt standen wir mit all unserer patriotischen Begeisterung im Visier der Engländer. Und was unglaublich war, die früheren Kollaborateuren der Deutschen bekamen wieder Oberwasser, diese Taugenichtse und Verräter, das war wie eine Ironie der Geschichte.“
Nun wurden UnterstützerInnen des Nationalen Widerstands gejagt, viele von ihnen ermordet. Als Katina erfuhr, dass auch sie selbst gesucht wurde, um öffentlich „abzuschwören“, um zu erklären, dass es ein Fehler war, bei der EPON gewesen zu sein und sie dafür um Vergebung bitten solle, konnte sie gerade noch untertauchen. Als sie nach monatelanger Flucht 1946 dann doch verhaftet wurde, kommentierte dies ein Polizeioffizier in Volos mit den Worten: „Die hat offenbar sieben Leben“.
Im Januar 1947 wurde Katina auf die Gefangeneninsel Ikaría in der östlichen Ägäis verschleppt, nach einigen Monaten aber wieder auf das Festland verfrachtet: Vor einer nahenden UN-Delegation sollte verborgen bleiben, dass dort auch Minderjährige gefangen gehalten wurden. Nochmals gelang ihr die Flucht: Sie ging „in die Berge“ und schloss sich dort der von der Kommunistischen Partei neugegründeten Demokratischen Armee an. Nach der militärischen Grundausbildung kämpfte sie als Offizierin eines Sanitätsbataillons während des Griechischen Bürgerkriegs. Sie erlebte Guerilla-Aktionen, die Schlachten am Grammos-Gebirge, Flächenbombardements – auch Napalm wurde abgeworfen – und schließlich die vernichtende Niederlage der Demokratischen Armee im Herbst 1949 und deren Rückzug über die nahe albanische Grenze. Katina Tenda ging wie viele ihrer MitstreiterInnen ins Exil, zunächst nach Polen, dann nach Ungarn und Rumänien.
1952 kehrte sie heimlich für zwei Jahre nach Athen zurück und arbeitete in der Gruppe, die sich dort dem Wiederaufbau der illegalen KKE widmete. Nicht lange, nachdem für diese Tätigkeit Nikos Belogiannis nach einem spektakulären und von internationalen Protesten begleiteten Prozess – Pablo Picasso verewigte ihn auf einer Skizze als „Mann mit der Nelke“ – zusammen mit weiteren Mitstreitern am 30. März 1952 hingerichtet worden war.
Von 1954 an studierte sie in Bukarest und Moskau Wirtschaftswissenschaften und arbeitete anschließend in einer rumänischen Exportfirma. 1968 – nachdem sich die KKE wegen völlig unterschiedlicher Bewertungen des „Prager Frühlings“ und dessen Niederschlagung durch Truppen des Warschauer Paktes gespalten hatte – ging sie mit ihrem Mann, dem Wirtschaftswissenschaftler Costas Latífis, und ihrer kleinen Tochter nach Paris. Dort erfuhr sie, dass ihr 1954 die griechische Staatsbürgerschaft entzogen und sie in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war.
Katina Tenda Latifis konnte erst nach dem Sturz der Obristen-Junta 1974 in ihre Heimat zurückkehren. Sie arbeitete als Geschäftsführerin einer Weinkooperative und entschloss sich erst 1999, die Geschichte ihres Lebens im Widerstand aufzuschreiben. Als unermüdliche Zeitzeugin hielt sie danach die Erinnerung an diese Kämpfe immer wach und veröffentlichte noch ein Jahr vor ihrem Tod ein Buch mit Kurzgeschichten zum Bürgerkrieg. Sie starb im Alter von 95 Jahren am 13. Januar 2023 in Almyrós.