Fast 400.000 Menschen wurden Opfer der NS-Zwangssterilisationen. Seit dem 27. Oktober 2019 erinnert in Ulm vor dem Landgericht eine Gedenkstätte an Zwangssterilisierte und die Opfer der „Euthanasie“-Morde.
Fast 400.000 Menschen wurden Opfer der NS-Zwangssterilisationen
Kranke und behinderte Menschen, oder wen die Nazis dafür hielten, gehörten zu den ersten Opfern im Nationalsozialismus. Die Umsetzung der „Rassenhygiene“ zum Schutz des „gesunden Volkskörpers“ begann unverzüglich nach ihrer Machtübernahme. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde am 14. Juli 1933 beschlossen und trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Für seine Umsetzung waren die Innenministerien maßgeblich, wobei die staatlichen Gesundheitsämter auf kommunaler und regionaler Ebene eine entscheidende Rolle spielten.
Die Sterilisationskampagne wurde von einer groß angelegten Propagandaaktion begleitet, die die ungemein große Belastung der gesunden arbeitenden Menschen durch die „unnützlichen Erbkranken“ (auch als „unnütze Esser“ oder „Ballastexistenzen“ bezeichnet) zum Ausdruck bringen sollte.
In der Folge wurden fast 400.000 Menschen, davon mehr als 20.000 Frauen und Männer in Baden und Württemberg, gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht. Nach einer Schätzung der Historikerin Gisela Bock starben im Rahmen dieser Zwangsmaßnahmen zwischen 5000 und 6000 Menschen – davon 90 Prozent Frauen.
Ulm setzt ein deutliches Zeichen – mitten in der Stadt
Nach derzeitigem Forschungsstand wurden von Januar 1934 bis zum Ende des Nazi-Regimes im Amtsgerichtsbezirk Ulm nach vorherigem Urteil des Ulmer Erbgesundheitsgerichts 1155 Männer und Frauen zwangssterilisiert. Die Urteile fällten Ulmer Juristen und Ärzte, durchgeführt wurden die Eingriffe überwiegend im städtischen Krankenhaus.
Und mindestens 170 Menschen aus Ulm wurden im Rahmen der „Euthanasie“-Aktionen ermordet. (Zum umfassenden NS-Programm zur „Reinigung des Volkskörpers“, das als „Gnadentod“ (Euthanasie) bezeichnet wurde, siehe auch: Ausflüge gegen das Vergessen (2): Die Mordanstalt Schloss Grafeneck.)

Bereits im Jahr 2015, 75 Jahre nach dem Beginn der „Euthanasie“-Morde, hatte sich in Ulm ein Initiativkreis aus Vertretern der Behindertenstiftung Tannenhof, der Stolpersteininitiative, der Kirchen und des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg gegründet, der ein Mahnmal für die Ulmer Opfer errichten wollte. Auch die Stadt Ulm, das Landgericht Ulm und das Land Baden-Württemberg stellten sich in die gemeinsame Verantwortung und beteiligten sich ideell und finanziell. So konnte nach vier Jahren gemeinsamer Arbeit das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und „Euthanasie“ am 27. Oktober 2019 eingeweiht werden.
Es steht in der Olgastraße vor dem Ulmer Landgericht, in dem während der NS-Zeit das Erbgesundheitsgericht tagte, und vis-à-vis des ehemaligen staatlichen Gesundheitsamts in der Karl-Schefold-Straße 5, das die Erfassung, Verfolgung und Vernichtung im Zusammenspiel mit den Reichs- und Landesinstanzen koordinierte.
Am Ort der Täter verbindet die moderne Skulptur Opfergedenken mit umfassenden Tatinformationen: Das Metallband, das sich von der Fassade des Landgerichts löst, läuft auf den Platz für Gedenken und Information zu, wo die BesucherInnen mehr erfahren über die Hintergründe der Verbrechen und über die Opfer. Menschen wie den 1903 in Urach geborenen Otto Pröllochs, der nach seiner Banklehre in Ulm 1927 psychisch erkrankte, 1934 während eines Aufenthaltes in der Heilanstalt Schussenried zwangssterilisiert und 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet wurde.

m Rahmen der Einweihung des Erinnerungszeichens gab es eine Reihe von Veranstaltungen, auf denen auch Angehörige von Opfern zu Wort kamen. „Das ist wichtig“, so die wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg, Nicola Wenge, „denn noch immer ist es nicht selbstverständlich, die Verfolgten öffentlich beim Namen zu nennen oder über ihre Lebensgeschichte zu sprechen, weil die Scham über die Krankheit und die damit verbundene Stigmatisierung sowie die Hilflosigkeit der Familie gegenüber den Verbrechen noch nachwirken. Ein zentrales Ziel des Erinnerungsprojekts ist es, dieser nachwirkenden Diskriminierung der Opfer mit einer offenen und respektvollen Erinnerungskultur zu begegnen. Einer Erinnerungskultur, die zugleich Bezüge zur Gegenwart herstellt, denn die Auseinandersetzung mit der Geschichte eröffnet einen Reflexionsraum über unseren heutigen Umgang mit Krankheiten und Behinderungen.“
Vertiefende Informationen:
Mitteilungen des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg: NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Morde, Heft 70 / Juni 2019
Silberzahn-Jandt, Gudrun / Naßl, Josef: Gedenkbuch für die Ulmer Opfer vonNS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Morden. „… aber ich hoffe, dass ich nichtverloren bin“, Ulm 2020