In Grafeneck nahm die NS-„Euthanasie-Aktion“ ihren Anfang
In Grafeneck bei Gomadingen im Landkreis Reutlingen wurden im Jahr 1940 10.654 Menschen umgebracht. Von den Tätern waren sie als „lebensunwertes Leben“ charakterisiert, ihre Ermordung im Rahmen des umfassenden NS-Programms zur „Reinigung des Volkskörpers“ als „Gnadentod“ (Euthanasie) bezeichnet worden. Hier begann der heute meist nach der Zentralstelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 als „Aktion T4“ bezeichnete Massenmord; ihm fielen hier und in weiteren Vernichtungszentren, die nach dem Muster Grafenecks errichtet wurden, circa 70.000 Psychiatriepatienten und Anstaltsbewohnerinnen – ob krank oder nicht – zum Opfer.

Das als Jagdschloss für die Herzöge von Württemberg erbaute Schloss, seit 1928 im Besitz der Samariterstiftung, die hier ein „Krüppelheim“ für Männer betrieb, wurde am 14. Oktober 1939 „für Zwecke des Reichs“ beschlagnahmt. Bis Januar 1940 wurde das ehemalige Samariterstift, deren Bewohner in das Kloster Reute umzuziehen hatten, zielgerichtet in eine Mordanstalt umgewandelt: Die NS-Behörden rekrutierten das nötige Personal, errichteten rund 300 Meter vom Schloss entfernt die Aufnahmebaracke und Garage und bauten eine Remise zur Gaskammer um, die bis zu 75 Menschen aufnehmen konnte – was genau der Transportkapazität dreier grauen Busse entsprach, mit denen die Opfer nach Grafeneck befördert wurden.

Am 18. Januar 1940 nahm die nun als „Landespflegeanstalt Grafeneck“ bezeichnete Institution unter der Leitung ihres ärztlichen Direktors Dr. Horst Schumann mit der Vergasung von 25 Patienten der bayrischen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar ihren Mordbetrieb auf. Der erste Deportationstransport aus württembergischen Anstalten traf am 25. Januar ein; Transporte aus Baden setzten im Februar 1940 ein.
Die in Grafeneck zwischen dem 18. Januar und dem 13. Dezember 1940 ermordeten Menschen kamen aus 48 Einrichtungen und psychiatrischen Kliniken im heutigen Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen, davon nach aktuellem Forschungsstand allein 558 Frauen und Männer aus der Ravensburger Heilanstalt Weißenau und 448 Frauen und Männer aus der Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz. Über 9.600 Opfer sind heute namentlich bekannt.
Gedenken und Erinnern in Grafeneck
1947 wurde Schloss Grafeneck wieder eine Einrichtung der Behindertenhilfe der Samariterstiftung. Die Remise mit der Gaskammer verschwand, ebenso die Aufnahmebaracke und die Garage für die grauen Busse. Mit Ausnahme der Errichtung einer kleinen, 1962 entstandenen Gedenkstätte, die aus einem Steinkreuz, einer halbrunden Steinmauer und einigen Urnengräbern besteht, wurden die hier begangenen Massenmorde weitestgehend verdrängt.

„Viel Zeit verging“, schreibt Thomas Stöckle, der Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, „bevor die Geschichte des Jahres 1940 in Grafeneck wieder zur Sprache gebracht, bevor das Schweigen gebrochen wurde. Fast 40 Jahre wurden die Morde der Nationalsozialisten an behinderten Menschen in Grafeneck nicht thematisiert, herrschte Sprachlosigkeit in der Region und weit darüber hinaus, fehlten die Worte für das Grauen.“
Seither ist viel geschehen. Im Jahr 1990 wurde die als offene Kapelle konzipierte Gedenkstätte Grafeneck errichtet. Die ein Fünfeck bildenden Stahlträger des Daches stehen für das 5. Gebot („Du sollst nicht töten“), der Riss in der Rückwand für den Schmerz über das hier verübte unbeschreibliche Geschehen. Der Zugang führt über einen Gedenkstein mit Bodenschwelle, in die viele der Namen der Einrichtungen eingelassen sind, aus denen Menschen zur Ermordung nach

Grafeneck gebracht wurden. Das Gedenk- und Namensbuch listet die Namen aller bisher durch langjährige Forschungen identifizierten Opfer; es wird ständig erweitert. Da es aber mit großer Wahrscheinlich nicht mehr gelingen kann, alle Opferschicksale zu rekonstruieren, sollen die 1998 als Granitquader in die Erde eingelassenen 26 Buchstaben des Alphabets, der so genannte Alphabet-Garten, auch an die unbekannten Opfer von Grafeneck erinnern.
m Jahr 2005 entstand schließlich das Dokumentationszentrum Gedenkstätte Grafeneck mit einer Dauerausstellung, die sich auch dezidiert den Tätern widmet, mit Bibliothek und Archiv. Es ist ganzjährig täglich geöffnet.
Vertiefende Informationen:
Gedenkstätte Grafeneck
Thomas Stöckle: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Tübingen 3. Aufl. 2012
Heinz Faulstich: Von der Irrenfürsorge zur „Euthanasie“. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg 1993